Die literarischen Biedermeier

 

Am 13. Mai 1907 kamen literatur- und kunstfreudige Damen und Herren im Hotel «Waage» zusammen. Man prüfte die Frage, ob sich in Baden eine Gesellschaft zur Pflege literarischer Interessen bilden ließe, da man die Gründung als eine Notwendigkeit empfand. In Bezug auf die Aufgaben, die einer solchen Gesellschaft in Baden zukämen, war man geteilter Ansicht. Schließlich einigten sich die Initianten mit Herrn Gyr an der Spitze auf die folgenden Programmpunkte: Öffentliche Vorträge, literarische Vereinsabende und Einrichtung eines Mappenzirkels. Einmütig wurde dann beschlossen, sich als «Literarische Gesellschaft» zu konstituieren. In den Statuten der Literarischen Gesellschaft Baden heißt es unter 1.: «Die Literarische Gesellschaft Baden stellt sich die Aufgabe, den Sinn für Literatur und ästhetische Kultur durch geeignete Veranstaltungen zu fördern», womit der Zweck des Vereins klar umschrieben war. In den provisorischen Vorstand wurden zwei Damen und drei Herren gewählt: Frau Dr. Bertha Guggenheim; Frau Dr. Helene Jaeger-Stumm; Herr Bankdirektor Dr. Stocker; Herr Oberrichter Fischer, späterer Direktor der Gewerbekasse Baden; Herr Rektor J. Gyr, als Präsident.“ (Jäger 1954:49)

In den Aufbruchsjahren nach dem ersten Weltkrieg „erlahmte allmählich der hochgemute Geist, der über den Anfängen der Literarischen Gesellschaft gewaltet hatte“ (Jäger). Eine aktive Gruppe junger Leute um den Apotheker Franz Xaver Münzel, die sich „Die Biedermeier“ nannten, organisierten mehr und mehr die kulturellen Veranstaltungen in Baden, sie beschlossen zum Beispiel 1924 die Herausgabe von Badener Neujahrsblättern. 1920 „bei der Bereinigung der Statuten zeigte sich die Majorität der «Biedermeier» für schweizerische Verhältnisse erschreckend avantgardistisch: Trotz einer ziemlich starken Opposition wurde beschlossen, Frauen als gleichberechtigte Mitglieder aufzunehmen!“ (Beeler 1962:88) Die Literarische Gesellschaft Baden löste sich 1930 auf und überließ die Organisation öffentlicher literarischer Veranstaltungen dem initiativen Kreis der Biedermeier.

Die für Kulturvermittlung schwierigen dreissiger Jahre, Kriegsjahre und Nachkriegsjahre beschreibt Walter Beeler sehr anschaulich in seiner Hommage „40 Jahre Gesellschaft der Biedermeier“ (1962, siehe Link).

Neue Vereine und Initianten übernahmen in den sechziger Jahren viele Formen der Kulturvermittlung: Musikvereine mit Konzerten, Galerien mit Kunstausstellungen, die Wettinger Volkshochschule mit Vorträgen, diverse Theaterbühnen mit Aufführungen. „Eine Lücke blieb ja noch trotz der vielfältigen Anstrengungen: Literatur und Dichtung. Als äusseres Zeichen der Konzentration auf diese Lücke ist schliesslich die Namensänderung der Biedermeier zu verstehen.“ (Oberholzer 1972:72) Am 1. Januar 1969 nämlich änderte die Gesellschaft der Biedermeier ihren Namen und nannte sich „zum Leidwesen der einen, zur Freude der anderen“ (wieder!) «Literarische Gesellschaft Baden».

In den kommenden Jahrzehnten änderte sich auch das Ziel und die Form der Autorenlesungen: „So ist auch die Bedeutung eines Vorlese-Abends eine andere geworden: Der Schriftsteller spricht nicht mehr vom blumengeschmückten Podium in den weihevoll verdunkelten Saal, sondern er setzt sich ans Tischchen mitten unter seine Zuhörer. […] Bei den Vorlese-Abenden soll es also nicht darum gehen, den Schriftsteller oder Dichter als ein Paradepferd «kulturellen Lebens» in die Zirkus-Arena zu führen, sondern viel simpler, viel einfacher um eine Möglichkeit geistiger Kontaktnahme mit jenen Leuten, welche ihre Gedanken und Ideen dichterisch in Worte zu kleiden vermögen.“ (Oberholzer 1972:73).

Mit Stolz wird aufgezählt, welche literarischen Grössen in Baden gelesen haben: „Wir wollten diejenigen fördern, die noch nicht so präsent waren. Aber es lasen auch Walther Kauer, Paul Nizon, Adolf Muschg, Urs Widmer, Alfred A. Häsler, Hugo Loetscher, Evelyne Hasler, Emil Zopfi, Hansjörg Schertenleib, Helen Meier, Hanna Johannsen, Ulrich Knellwolf, Ernesto Cardenal, Erica Pedretti, Dorothee Sölle …Die Reihe sei fortgesetzt mit den Aargauer Schriftstellerinnen und Schriftstellern Klaus Merz, Silvio Blatter, Urs Faes, Hermann Burger, Erika Burkart, Ernst Halter, Pirmin Meier, Claudia Storz…“ (Holstein 2006:162).

Doch auch der Präsident der Literarischen Gesellschaft von 1973-86, August Guido Holstein, fragt sich, wozu Lesungen eigentlich dienen: Ich „war der Meinung, literarische Abende dienten dazu, für sich einen neuen Autor, eine neue Autorin zu entdecken, musste jedoch feststellen, dass die Entdeckungsfreude bei den Mitmenschen oft gering ausfiel. Vielleicht ist es eher ein zweiter Schritt: Man ist auf eine künstlerische Person aufmerksam geworden; eine Begegnung mit ihr am Leseabend zieht die Konturen nach, verdeutlicht und intensiviert. Wir bräuchten dies heute vermehrt in unserer Massengesellschaft, müssten unsere Felder abstecken. Dazu kommt, dass wir den Rhythmus eines Schreibenden eher kennen lernen, wenn er selber liest.“

August Guido Holstein muss 2006 seinen Rückblick auf die letzten zwanzig Jahre Literarische Gesellschaft Baden mit einer negativen Feststellung beginnen: „In den Jahren nach 2000 hatte man im Raum Baden nicht mehr viel von der Literarischen Gesellschaft gehört. Ihre Veranstaltungen wurden nicht mehr fortgeführt, die literarischen Abende, quasi wie Flugzeuge «eingemottet», blieben am Boden, vorbei die Flüge für einige Zeit. Nur ihre Tätigkeit als Herausgeberin der Badener Neujahrsblätter, zusammen mit der Vereinigung für Heimatkunde, verblieb.“ Die Gründe sieht er im Schrumpfen der Lesekultur und schliessenden Verlagen und Buchläden: „Lesekultur im Zeitalter von Fernsehen und Internet wird wie eine Sportart qualifiziert, der nur ein kleiner Teil huldigen will, obwohl sie für eine geistige Entwicklung unumgänglich wäre.“

Doch der Anlass für seinen Rückblick war die Tatsache, dass 2005 eine neue Crew die „eingemottete“ Literarische Gesellschaft übernahm und gründlich auslüftete. Seither bietet die Literarische Gesellschaft unter dem Label „Baden liest“ wieder regelmässige „Rundflüge“ über das zeitgenössische literarische Schaffen, pro Jahr sechs Lesungen mit deutschsprachigen Autorinnen und Autoren und pro Jahr ein bis zwei Spezialanlässe.